Page 36 - Ärzteblatt Sachsen, Oktober-Ausgabe 2025
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LESERBRIEFE



        Leserzuschrift „Aktuelle Fälle aus

        der Gutachterstelle“, Heft 7/2025





        Meine Hospitation im Rahmen der all- Bereits am Anfang hatte ich beim Lesen  Es drängt mich, zu diesem CIRS-Fall
        gemeinmedizinischen Facharztausbil- des Artikels ein mulmiges Gefühl . Mir ist  Stellung zu nehmen: Nach der Anam-
        dung in der Chirurgie liegt ein halbes  es unverständlich, dass der Patient 5!  nese und den mitgeteilten Befunden
        Jahrhundert zurück . Prägnante Aussa- Tage lang nach minimaler Diagnostik oh- hätte bei dem  30-jährigen Patienten
        gen und Festlegungen des Chefarztes  ne  Diagnosefindung  nur  mit  Schmerz- differentialdiagnostisch vom Aufnah-
        prägten sich aber bis heute ein! Etwa,  mittel ohne weiterführende Diagnostik  metag an ein entzündlicher Prozess im
        dass eine ,,Fehleinweisung“ besser sei,  behandelt  wird .  Über  die  Qualität  der  Bauch raum erwogen werden müssen .
        als zu Hause die Perforation bei einer  täglichen Visiten kann nur spekuliert  Eine Abdomensonografie ergab bei
        Appendizitis abzuwarten . Die Diagno- werden . Erst als es praktisch schon zu  persistierenden  abdominalen  Be-
        se ,,akute Appendizitis“ sei klinisch zu  spät war, wurde wenigstens ein CT ver- schwerden keinen pathologischen Be-
        stellen . Paraklinische Untersuchungen  anlaßt . Der weitere Verlauf war abzuse- fund . Anstatt zu diesem Zeitpunkt ein
        seien von untergeordneter Bedeutung  hen, trotz nun intensiver Bemühungen,  Abdomen-CT zur Diagnosestellung zu
        und waren im Bereitschaftsdienst so- den Patienten zu retten . Ein junges Le- veranlassen, wurde eine analgetische
        gar verpönt, wie auch die Gabe von  ben durch Inkompetenz so zu zerstören!  Schmerzausschaltung mit Dipidolor
        Opiaten oder deren Analoga bei nicht  Der Vorwurf der Antragsteller ist mehr  und Novalgin eingeleitet bzw . fortge-
        eindeutiger Diagnose . Vom Chefarzt  als berechtigt . Ich fühle mit den Ange- setzt, was sicher zu einer Verschleie-
        oder durch den Hintergrunddienst –  hörigen, es tut mir furchtbar leid .  rung der akuten Bauchsymptomatik
        ein erfahrener Oberarzt – wurde defi-           Gisela Hähnel, Thalheim / Erzg .  geführt hat . Dafür spricht auch, dass
        nitiv zur Operationsindikation Stellung                                 unter dieser Therapie innerhalb von
        bezogen . Uns Assistenten wurde  Mit Interesse habe ich den m .E . katas- weiteren  vier  Tagen  stationären Auf-
        nachdrücklichst eingeschärft, dass  trophalen Verlauf einer akuten Appen- enthalts „keine wesentlichen klini-
        praktisch jede andere Erkrankung der  dizitis gelesen . Mit Interesse auch des- schen Befunde dokumentiert“ (oder
        Bauchhöhle einer Appendizitis ähneln  halb, weil mir ähnlich gravierende Fälle  nicht erhoben?) wurden . Am fünften
        kann und umgekehrt eine Appendizitis  aus meiner mittlerweile doch recht lan- Tag  nach  stationärer  Aufnahme kam
        jedwede Abdominalerkrankung zu imi- gen beruflichen Laufbahn nicht unbe- es zu einer massiven Zustandsver-
        tieren vermag und atypische, sympto- kannt sind . Insbesondere die mangel- schlechterung bei nunmehr im CT gesi-
        marme Bilder, keinesfalls nur bei Be- hafte Verlaufsdokumentation, das Be- cherten phlegmonöser Appendizitis .
        tagten vorkommen . Beim leisesten  finden des Patienten betreffend, ist  Perityphlitis? Peritonitis? Nach der da-
        Zweifel sei stets eine Laparotomie an- sehr irritierend . Das konterkariert so  raufhin erfolgten offenen Appendekto-
        gezeigt . Tatsächlich habe ich später  ziemlich alles, was man auf der „Arzt- mie entwickelte sich eine schwere
        mehrfach erlebt, dass wegen Kompli- schule“ mal gelernt haben sollte . Grün- Sepsis mit Multiorganversagen und
        kationen bei unterlassener oder zu  de für diese mangelnde Dokumentati- weiteren schwerwiegenden, auch ope-
        spät erfolgter Appendektomie der Kla- on gibt es viele, diese liegen aber in den  rationspflichtigen, lebensbedrohlichen
        geweg erfolgreich beschritten wurde .  allermeisten Fällen in der Person des  Komplikationen  (siehe  „Ärzteblatt
        Dagegen ist mir kein einziger Fall be- Behandlers begründet . Hinsichtlich der   Sachsen“, Heft 7/2025) .  Der vorläufige
        kannt, dass ein Patient wegen ,,unnö- Qualität der durchgeführten operativen  Endzustand dieser traurigen Kasuistik
        tiger“ Entfernung des Appendix sich  Maßnahmen lässt sich ohne Kenntnis  ist die Unterbringung des vielfach ge-
        beschwert hätte, wenn der Chirurg  der entsprechenden Operationsberich- schädigten Patienten nach neurologi-
        verbleibende diagnostische Unsicher- te  keinerlei  Beurteilung  vornehmen .  scher Frühreha in einer Pflegeeinrich-
        heit ehrlich eingestand und die mit ei- Schlussendlich muss man sagen, das  tung! In der Zusammenschau der im
        nem geringen Risiko behaftete Opera- das Leben, welches der Patient bis zu  „Ärzteblatt Sachsen“ beschriebenen
        tion zur Abwendung größerer Gefah- seiner Vorstellung im Krankenhaus ge- Befunde und dem komplikationsträch-
        ren  durchführte .                  führt hat, definitiv vorbei sein dürfte .   tigen Verlauf muss man den Antrag-
                                                                                stellern in ihrer Argumentation folgen,
                  Dr . med . Rudolf Grzegorek, Görlitz  Dr . med . Albrecht Rosenkranz, Parthenstein  dass es sich im vorliegenden Fall um


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