Page 4 - Ärzteblatt Sachsen, Mai-Ausgabe 2023
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EDITORIAL
in den USA, verbunden mit sehr hohen Nebenwirkungen.
AIDS wird 1994 zur häufigsten Todesursache in den USA bei
Menschen im Alter zwischen 25 und 44 Jahren. 1995/1996
standen erstmals Kombinationstherapien zur Verfügung.
Erst 2001 wurden Generika zur Verfügung gestellt, vor allem
für ärmere Länder mit viel höherer Inzidenz. Neben der
Behandlung waren Aufklärungskampagnen zum frühen
Erkennen und frühen Behandeln wichtig – und das immer-
währende Thema der Prävention nahm großen Raum ein.
2012 wurde die erste sogenannte HIV-Präexpositionspro-
phylaxe (PrEP) zugelassen.
Aktuell beträgt in Deutschland die durchschnittliche Lebens-
erwartung 78,5 Jahre (Männer) und 83,4 Jahren (Frauen). Für
© SLÄK HIV-infizierte Patienten fast ähnlich: Im Schnitt, wenn das
Prof. Dr. med. habil. Antje Bergmann erste Jahr der Behandlung überstanden ist, bei 73 Jahren für
Männer sowie 76 Jahren für Frauen. Das bedeutet, dass alle
chronischen Erkrankungen, die im höheren Lebensalter auf-
Geschichte eines Virus – treten können, auch bei HIV-Patienten vorkommen und die
Leben mit einer Erkrankung Lebensqualität beeinflussen können. Wissenschaftler der
Universität Birmingham stellten fest, HIV-Infizierte entwi-
ckeln fast zwei Jahre früher als Nicht-Infizierte vaskuläre
Mai 2023, Herr S., 78 Jahre, kommt zur Routine-Sprech- Erkrankungen, wie eine periphere arterielle Verschluss-
stunde in die Hausarztpraxis. Die Kontrollen zum Diabetes krankheit, Hypertonie, Schlaganfall, Herzinfarkt, koronare
mellitus Typ 2, der Hypertonie, der KHK stehen an und die Herzkrankheit.
Laborwerte zeigen: alles stabil und gut eingestellt. Herr S . Wird die HIV-Infektion zur „Nebensache“? Ist sie, da behan-
berichtet vom letzten Urlaub, drei Wochen Lanzarote. Er delbar und nicht mehr das Todesurteil, weniger gefährlich?
fühlt sich fit und ist unternehmungsfreudig. Klingt nicht Die Infektionszahlen der letzten Jahre und besonders in Zei-
nach einem besonderen Krankheitsverlauf – ist es aber: Herr ten der Pandemie lassen aufhorchen. Wer annahm, die Inzi-
S. ist seit Ende der 1990er-Jahre HIV-infiziert, hat eine anti- denz von sexuell übertragbaren Erkrankungen (STI) sank
retrovirale Kombinationstherapie, die er gut toleriert. unter den strikten Maßnahmen, wie beispielsweise Kontakt-
Undenkbar vor 40 Jahren – undenkbar bis vor 20 Jahren. Das beschränkungen und Lockdown, irrt sich. Dies betrifft übri -
Langzeitüberleben mit der HIV-Infektion stellt uns vor gens alle STI. Deswegen sollten Aufklärungskampagnen und
andere Herausforderungen als vor 40 Jahren. frühzeitiges Sensibilisieren auch weiterhin vorangetrieben
und unterstützt werden.
Anfang der 1980er-Jahre erkrankten meist junge, homose- Herr S. ist froh, dass seine HIV-Infektion – zumindest in einer
xuelle Männer in den Metropolen der Welt, wie San Fran- größeren Stadt wie Dresden – nicht zu Stigmatisierung und
zisco, Paris, New York, an einer rätselhaften Infektion, die zu Ausgrenzung geführt hat, er an allen Aktivitäten teilnehmen
schweren Lungenentzündungen, Pilzinfektionen und oft kann, vom Reha-Sport über Konzertbesuche, das Leben fast
schnellem Tod führte. 1983 wurde das humane Immundefi- ohne Einschränkungen, außer denen, die andere im ver-
zienzvirus Typ 1 von Luc Montagnier und Robert Gallo und gleichbaren Alter auch aufweisen, möglich ist. Er kennt aber
deren Arbeitsgruppen erstmals beschrieben. Mit dem Virus- Fälle, in denen noch nicht einmal die engste Familie oder der
nachweis in den frühen 80er-Jahren war in fast allen Fällen Hausarzt von der Infektion wissen. Das ist in der heutigen
eine infauste Prognose verbunden, der sichere Tod, Leiden, Zeit traurig und sollte der Vergangenheit angehören.
Sterben, Hoffnungslosigkeit und Machtlosigkeit der Erkran- Sensibel und aufgeschlossen seinen Patienten gegenüber
kung gegenüber. Angst, Ausgrenzung, Hoffnung, Enttäu- sein, Ansprechpartner für Probleme und Nöte, stabiler Part-
schung folgten, Sanktionen und die Stigmatisierung ver- ner und Begleiter vor allem auch in Krisenzeiten – das ist
schiedener Patientengruppen. Es sollte viele Jahre dauern, ärztliches Tun!
bis es zumindest in den entwickelten Ländern Hoffnung Prof. Dr. med. habil. Antje Bergmann
durch Medikamente gab. Eine erste Behandlung gab es 1987 Vorstandsmitglied
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